Erbeskopf, Berg des Schicksals
Ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie ich als kleiner Bub vorm Sessel meines Großvaters auf dem Boden saß und mit weit aufgerissenen Augen seinen Erzählungen vom Land hinter dem Wald lauschte. Was er da schilderte war so abenteuerlich, dass ich schon damals den Entschluss fasste, einmal in diese Welt vorzudringen. Ich wusste aber auch, dass Dies ein schwieriges Unterfangen war, denn um dieses Land zu erreichen, musste man erst einmal Ihn überwinden, den Erbeskopf!
Als ich 14 Jahre alt wurde,beschloss ich Es zu tun. Ich bereitete die Expedition bis ins Detail genau vor. Im Morgengrauen schlich ich mich aus meinem Zimmer und fing an zu packen. Ich machte mir 5 Schmieren mit Aufschnitt, zwei davon mit Jagdwurst.
Weiterhin 4 Tüten ” Sunkist”, einem äusserst süssen Limonadengetränk mit vielen Konservierungsstoffen, von dem man faule Zähne bekommt. Ich schlich mich ins Schlafzimmer meiner Eltern, um sie noch einmal zu sehen, aber auch um mir Vaters Schweizer Offiziersmesser, mit 16 verschiedenen Werkzeugen zu leihen.
Er hatte es in seiner Nachttischschublade und es war gar nicht so einfach es heraus zu nehmen ohne ihn zu wecken. Er hätte sofort meine Expedition verhindert und mir ans Geweih geklopft.
Ich wartete bis er einen besonders lauten Schnarcher von sich gab und zog dann die Schublade mit einem beherzten Ruck auf. Mein Herz klopfte als ich dieses Prachtstück eines Schweizer Messers in meiner Hand hielt, durfte ich es doch sonst von Vater nur an jedem Heiligabend nach der Bescherung für eine Viertelstunde haben. Nun hatte ich eine vortreffliche Waffe, um mich gegen wilde Tiere, oder die Eingeborenen hinter dem Walde zu verteidigen. Ich packte alles in die Packtaschen meines 24iger Fahrrades mit Dreigangschaltung und machte mich auf den Weg.
Bis nach Allenbach verlief die Expedition problemlos, doch am Ende des langen Stichs hinter Allenbach merkte ich, dass die Luft immer dünner wurde und ich immer grössere Schwierigkeiten beim Atmen bekam. Dann kam auch noch Nebel auf, der immer dichter wurde und ich war schon völlig entmutigt in Versuchung, die Expedition aufzugeben. Ich musste mein Rad schieben, da auch der kleinste Gang meiner Dreigangnarbenschaltung mit dieser gewaltigen Steigung vollkommen überfordert war.
Plötzlich raschelte es rechts von mir in den Hecken. Ich ließ das Rad zu Boden fallen und klappte die grösste Klinge des Schweizer Messers auf. Ich wusste ja nicht, war es ein wildes Tier, dass vom Geruch meiner Schmieren angelockt wurde, war es ein Wegelagerer, oder war es sogar der geheimnisvolle “Dilldapp”, ein furchterregendes Fabelwesen, dass in dieser Gegend existieren soll. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief in den Nebel:” Komm nur, Du Sau! Ich habe keine Angst!” Die Entschlossenheit in meiner Stimme, ließ den Verursacher des Raschelns sofort die Flucht ergreifen! Es war ein Hase. Aber ein ziemlich Grosser!
Ich hob mein Fahrrad auf und machte mich weiter auf den Weg. Keuchend arbeitete ich mich Meter für Meter vor. Jeder Schritt wurde zur Qual. Ich aß eine Jagdwurstschmier, die mir wieder Kraft spendete und plötzlich lichtete sich der Nebel. Was ich jetzt vor mir sah, war unbeschreiblich! Majestätisch und Ehrfurcht gebietend stand er vor mir: der höchste Berg des Hunsrück, 816m hoch, der Erbeskopf!
Sein Anblick ließ mich zitternd verspüren, wie klein ich Menschlein doch war. Ich kam mir nichtig und unbedeutend vor, wie Fliegenkot unter den Fingernägeln der Unendlichkeit.
Nachdem ich einige Zeit vor diesem gewaltigen Bergmassiv geweilt hatte, stellte ich meine Kleinbildkamera so auf, dass ich mit Selbstauslöser mich, den Berg und das Fahrrad schön aufs Bild bekam. Vielleicht werde ich die Bilder später verschiedenen Zeitschriften und Magazinen anbieten.
Ich machte mich talwärts.
Nach einem wahnsinnig schweren und gefährlichen Abstieg, erreichte ich das Land, von dem meine Ahnen sprachen. Völlig überwältigt von der mir unbekannten Fauna und Flora erreichte ich eine menschliche Ansiedlung, die die Eingeborenen in ihrer mir schwer verständlichen Sprache “Thalfang” nannten.
Ich schob mein Rad an den Hütten vorbei und betätigte meine Laufradschelle , um mich erkenntlich zu machen. So gleich stürmten einige Eingeborene auf mich zu, umzingelten mich und sagten in ihrer Sprache, die sehr Kissuaheli glich:”Wat gift dat hai!” Ich klappte erschrocken mein Schweizermesser auf, legte es dann aber langsam und bedächtig zur Seite, um sie nicht zu provozieren. Ihr Anführer näherte sich schnuppernd meinem Rad, wo sich noch 2 Schmieren in den Packtaschen befanden.
Ich packte die Schmieren aus, riss sie in kleine Stücke, die ich unter den Eingeborenen verteilte. Es schien ihnen zu schmecken, denn sie verschlangen Alles in atemberaubender Geschwindigkeit. Staunend bewunderten sie mein Fahrrad und betätigten den Hebel meiner Dreigangschaltung. Doch das grösste Wunder war für sie mein Rückspiegel, in dem sie sich betrachten konnten. Die Frauen und Mädchen der Eingeborenen, warfen mir verschmitzte und interessierte Blicke zu. Die Schönste von ihnen, nahm mich an der Hand und führte mich in eine der Hütten. Sie legte ihren Lendenschurz ab und kam langsam auf mich zu. Gerade als sie beginnen wollte mich zu küssen, wurde ich leider wach und musste feststellen, dass ich die ganze Sache nur geträumt hatte. Die Realität holte mich schnell und mit aller Unerbittlichkeit ein:
Das Schweizer Messer bekam ich weiterhin wie bisher, nur am Heiligen Abend für eine viertel Stunde. Thalfang war ein ganz normales Dorf im Hunsrück, in dem meine Tante Christel, mein Onkel Paul und Cousin und Cousine wohnten. Für mein Fahrrad interessierte sich keine Sau und es gab auch kein schönes Mädchen, dass mit mir in eine Hütte gehen wollte!